Das Wort „Adivasi“ für die Indigenen Indiens wurde in den 30er Jahren von politischen Aktivisten geprägt. Es ist ein Wort aus dem modernen Sanskrit und bedeutet „erste Siedler, ursprüngliche Einwohner“. Das gefiel den strengen Kasten-Hindus nicht, die sich als Ursprung Indiens sehen. Und so weigerten sie sich auch, diesen Begriff in die indische Verfassung nach der Unabhängigkeit zu nehmen. Auch heute erkennt die zentralindische Regierung den Begriff nicht an. Man ahnt, welches Konfliktmaterial vorhanden ist…
Über 100 Millionen Adivasi in über 500 Volksgruppen aufgeteilt machen mind. 10% der indischen Bevölkerung aus. Angesiedelt zwischen folkloristisch anmutenden exotischen Tanzdarbietungen und im Alkohol ersäuftem Elend ist die Spannbreite groß. Zusammen mit den Dalits, den unberührbaren Kasten, gehören sie zu den ärmsten Menschen in Indien. Ohne sie kennenzulernen, fehlt einem ein Puzzlestück von Indien. Aber wie?
Ich bin in Rajasthan auf einer Trekkingtour. Ich gehe mit einem Dolmetscher einer Agentur und Uda. Uda ist Adivasi und der einheimische Experte, der die Tier- und Pflanzenwelt kennt. Er deutet hierhin: ein Affe, er deutet dorthin: ein seltener Vogel, er hebt knackwurstähnliche Stengel auf: das bekommen die Babies als erste feste Nahrung, er zeigt auf den Boden: Leopardenscheiße. Uda wohnt unweit meiner Unterkunft. Der Dolmetscher führt mich hin und lässt mich allein. Ohne Sprache. Udas Frau lächelt mich an. Sie heißt Mullibai. Ich werde auf einen Charpoi gesetzt. Alle gehen ihren Arbeiten nach. Ein sehr junges Mädchen sitzt im Haus am Herd. Sie ist frisch eingeheiratet. Sicherlich noch keine 15. Ihr Ehemann wirkt auch nicht älter, versucht sich aber manchmal als Großspuriger. Mullibai lacht. 10 Kinder hat sie, erzählen ihre Finger. 5 Mädchen und 5 Jungen. Die jüngste springt freudig auf Udas Schoss und kuschelt.
Die Ziegen und Schafe und ein paar Kühe kommen. Die blau gekleidete Mullibai und ein rot gekleidetes Mädel drängen die Tiere umsichtig und beharrlich in den Stall. Dann setzt sich Mullibai nieder auf den Boden und klemmt sich ein Messer mit Klinge nach oben unter den Fuß. Sie schneidet Kartoffeln für das Abendessen. Das Messer bleibt ruhig, Mullibais Hände bewegen die Kartoffel.
Das rote Mädchen hat das getrocknete Gestrüpp vom Tag zusammen gekehrt und aufgehäuft. Sie entfacht ein Feuer im Abendlicht. Ich springe mit meiner Kamera und neugierigen Augen hierhin und dorthin und versuche, alles zu erfassen. Viel ist es nicht. Udas Familie ist Adivasi. Sie gehören den Garrasiyas an. Sehe ich Unterschiede zu den anderen Kastenbauern Rajasthans? Nicht wirklich. Der Dolmetscher kommt wieder, um mich abzuholen. Ich möchte fragen, übersetzen lassen. Aber mir fällt nichts ein. Wir starten zur Unterkunft. Mullibai ruft uns etwas hinterher. Der Dolmetscher lacht: Sie sagt, ich soll gut auf dich aufpassen. Du bist jetzt ihre Schwester. Ein warmes Gefühl macht sich in der Bauchgegend breit. Meine guten Gefühle zu Mullibai werden erwidert. Ich war ganz allein über einen längeren Zeitraum bei einer Adivasi-Familie. Ich habe nicht sprechen können. Ich habe geguckt und nichts verstanden. Der Dolmetscher bleibt stumm. Wie ist es, in Indien ein Adivasi zu sein?
Diesem Erlebnis folgten weitere. Herz und Bauch haben Erfüllung gefunden in diesen Begegnungen. Aber Wissen? Wissen tu ich weiterhin nichts über die Adivasi. Ich weiß auch nicht, warum die Dolmetscher nicht übersetzen. Sind meine Fragen unangenehm? Sind die Antworten unangenehm? Sind es überhaupt Antworten auf meine Fragen? Ich reime mir ein bisschen was zusammen. Und stelle fest, dass es Reime sind. Keine Wirklichkeiten. Ich kann schauen und mir eine eigene Wirklichkeit über die Adivasi zusammen spinnen. Und darüber, warum es keine übersetzten Gespräche gibt.
Wir sitzen bei Suki in einer anderen Ecke Rajasthans. Suki ist Raika. Wir fragen, Suki antwortet, der Dolmetscher übersetzt. Wir fragen, ob Suki an uns Fragen hat. Wir erzählen über unser Leben. Suki nickt. Auf dem Heimweg sagt der Dolmetscher, dass Suki gar nichts gefragt habe. Sie hätte nichts gewusst. Er habe sich ihre Fragen ausgedacht.
Ich bin in Kerala im Distrikt Wayanad. Hier leben besonders viele Adivasi. Ich mache das Projekt Kamerakidz. 80% der Kinder sind Adivasi verschiedener Gruppen. Ich kann sie optisch nicht ausmachen. Sie wohnen in den kleinen Hütten. Die großen Häuser gehören den anderen. Sie bekommen Unterstützung wie Trinkwasserzugang. Am Abend torkeln einige Betrunkene durch den Ortskern. Es sind einige Väter und ältere Brüder der Kinder darunter. Meine Kontakte sind Nicht-Adivasis. Sie erzählen, dass manche Familien sich arg Mühe geben und gute Leute sind. Bei anderen gäbe es viele Probleme. Ich besuche einige Familien. Wieder ohne Dolmetscher. Sie sind sehr lieb mit mir. Wir reden wenig miteinander. Sprachbarrieren. Manche haben sich so sauber und nett wie möglich eingerichtet, bei manchen sieht es anders aus. Vielfach ist erkennbar, wer und wo die Adivasi sind. Aber in der Schule verschwinden die Unterschiede. Die Zukunft?
Die Anbieter bieten Tribal Tours an. Tribal klingt schön. Adivasi auch. Es gibt Erwartungen. Mehr erfahren von einer Lebenswelt, die noch ferner ist als die der Kastenhindus. Bauch und Herz schaffen etwas, wo noch keine Sprache ist. Es gibt wenige Adivasi, die englisch sprechen. Jedenfalls dort, wo die Fremden hingeführt werden. Augen können ein bisschen was erfassen. Aber es lauert eine Stolperfalle und die heißt „Interpretation“. Uns muss bewusst sein, dass wir Sachen und Zusammenhänge nur da sehen, wo sie an bereits Vorhandenem anknüpfen. Dadurch entgeht vieles. Und vieles kann falsch in die eigene Lebenswelt integriert werden.
Sollte man also auf Tribal Tours verzichten? Nein. Wir dürfen nur nicht gewisse Erwartungen haben. Rationale Erwartungen. Begegnung kann auf vielen Kanälen statt finden. Und das ist besser als nichts.
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Wir bauen Ihnen gerne Begegnungen mit Adivasi in Rajasthan und Kerala in Ihren individuellen Tourplan ein. Und sind jetzt schon gespannt auf Ihre Erfahrungen!