Im Lonely Planet war der Tempel in Balaji als Exorzismustempel bezeichnet worden. Fotografieren verboten. Das macht neugierig und ich mich auf den Weg. Allerdings war die Neugier der anderen WestlerInnen wohl bedeutend geringer, keine/r zu sehen und es machte auch nicht den Eindruck, als wären öfters welche da. Alles nur in Hindi-Schrift. Viele Unterkünfte und Essensstände und Verkaufsläden. Und Menschen. Schlangen am Tempeleingang.
Ich komme mir blöd vor, so voyeuristisch. Und entschuldige mich mit der Ausrede, alle Aspekte der indischen Kultur kennenlernen zu wollen. Aber klar will ich nur glotzen. Und reihe mich in die Schlange ein. Es geht langsam voran. Am Eingang fangen einige an zu singen. Drinnen sind noch 5 m Schlange zu gehen, dann ist das Heiligtum zu sehen mit Priestern und Feuer und kaum hat man einen Blick erhascht, wird man schon weitergedrängelt an denen vorbei, die es gerade noch schaffen, ihre Opfergaben abzugeben. Das war’s?
Nein, es führt noch eine Treppe nach oben und dort in einem großen Raum sitzen sie auf dem Fußboden, ein Vorbeter heizt die Massen ein, gibt die Worte und den Klatschrhythmus vor, wird langsam und gewichtig, schneller und ekstatisch und die Menge singt und klatscht mit. In Einigen beginnt sich etwas zu verselbständigen. Die Köpfe zucken hin und her, die Haare wirbeln herum, es ergreift die Oberkörper, manche stehen auf und wiegen und schütteln sich, andere rollen auf dem Boden in Zuckungen hin und her. Ein Mann springt auf, breitet die Arme aus und dreht sich im Kreis, wird wieder ruhiger nur um kurze Zeit später wie von einer unsichtbaren Kraft besessen durch die Reihen mit großen Sprüngen nach draußen zu hüpfen. 80% der Sitzenden wirken durchaus „normal“ und scheinen eher als unterstützender Chor zu fungieren. Aber Einzelne überwältigt es dann doch und sie gebärden sich wie wild. Fast alles Frauen.
Die neben mir, eine ca. 60jährige Dame hat im Schneidersitz den Oberkörper auf dem Boden abgelegt. Sie atmet ruhig. Richtet sich manchmal auf und legt sich wieder ab. Und auf einmal zuckt auch sie für einige Minuten wie wild herum, bevor sie sich wieder ablegt. Ihre langen hennaroten Haare stehen wirr vom Kopf ab. Vielleicht sitzt sie schon Stunden und hat die meisten Zuckungen hinter sich? Eine gutsituierte Frau in den mittleren Jahren schräg vor mir beginnt, den Kopf hin- und herzuwerfen, der Zopf saust von links nach rechts nach links. Der Oberkörper folgt und schwitzt und zuckt. Sie löst das Haargummi und die Haare fliegen. Auch richtet sie die Kleidung.
Ich merke, wie ich alles misstrauisch beäuge und nach „Fake“-Anzeichen Ausschau halte. Sind es einfach nur Frauen, die nicht so leben, wie sie eigentlich wollen und sich hier gefahrlos gehen lassen können? Ein Ventil brauchen? Einmal den Körper nicht zähmen und unter Kontrolle halten? „Verrückt-sein“ kann anziehend wirken. Aber was weiß schon ich?
Ich verlasse den Raum, mich weiterhin als Voyeurin fühlend, und mache mich auf den Rückweg.
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